Schmerztherapie - ein Stiefkind der Medizin

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BahACOOL
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Schmerztherapie - ein Stiefkind der Medizin

von BahACOOL am 19.02.2010 22:54

Viele Menschen fürchten sich davor, krank zu werden. Aber fast jeder hat Angst vor Schmerzen.

Schmerz ist zunächst ein Schutzmechanismus: Er signalisiert uns, dass etwas nicht stimmt in unserem Körper. Vergeht die Ursache, doch der Schmerz bleibt, wird er selbst zur Krankheit – und oft zum langen Leidensweg für die Betroffenen.

10 Millionen Betroffene in Deutschland
Allein in Deutschland leiden laut der Deutschen Schmerzliga rund acht bis zehn Millionen Menschen an chronischen Schmerzen.




Aber nur ein kleiner Teil davon befindet sich in angemessener Behandlung. Denn es fehlt an Einrichtungen und Spezialisten auf diesem recht jungen Gebiet der Medizin. Bis vor wenigen Jahren war die Schmerztherapie noch nicht einmal Prüfungsfach im Studium. Manche Ärzte nehmen die Beschwerden ihrer Patienten daher nicht ernst genug. Schmerz – oft ohne erkennbare organische Ursache – wird nicht selten als Einbildung oder „Psychokram“ abgetan oder als etwas, mit dem der Patient selbst fertig werden muss. Oft sind es aber auch die Betroffenen selbst, die sich nicht oder nicht mehr in Behandlung begeben – aus Angst, als Versager, Simulant oder „Psycho“ zu gelten oder auch aufgrund schlechter Erfahrungen mit Therapeuten.
Vielfältige Ursachen von Schmerzen
Akuter Schmerz ist ein Schutzmechanismus und verschwindet deshalb meist nach Stunden oder wenigen Tagen – zusammen mit seinem Auslöser. Der chronische Schmerz dagegen überdauert seine Ursache um Monate oder sogar Jahre und wird damit selbst zur Krankheit. In den letzten Jahren werden Schmerzen nicht nur nach den auslösenden Krankheiten, sondern auch nach den Mechanismen der Schmerzentstehung unterschieden. So gibt es beispielsweise den entzündungsbedingten Schmerz, den Nervenschmerz oder den Tumorschmerz. Dies ist – neben der Schmerzstärke – auch für eine adäquate Therapie wichtig. Zu Schmerzen, die chronisch werden können, zählen:

•Kopfschmerz (auch Spannungskopfschmerz)



•Migräne



•Medikamenten-Kopfschmerz



•Schmerzen des Bewegungsapparats wie Kreuz- und Wirbelsäulenschmerzen, Muskelschmerzen



•Rheumaschmerzen



•Neuralgien (Nervenschmerzen, z. B. Trigeminusneuralgien)



•Phantomschmerzen nach Amputationen



•Schmerzen in Folge von Tumoren


Nervenzellen lernen
Überträger des Schutzreizes Schmerz sind die Nervenbahnen. Früher gingen die Wissenschaftler davon aus, dass Nerven – ähnlich wie ein Stromkabel – einfache Signalstrecken sind, deren einzige Aufgabe es ist, die Reize weiterzuleiten. Heute weiß man, dass Nerven auch über ein so genanntes Schmerzgedächtnis verfügen: Je länger und häufiger sie einen Schmerzreiz übertragen, desto größer ist die Gefahr, dass sich der Schmerz verselbstständigt, chronisch und somit zur eigenständigen Krankheit wird. Eine frühzeitige ausreichende Linderung akuter Schmerzen ist darum sehr wichtig, um die Ausbildung eines Schmerzgedächtnis zu vermeiden und Folgen einer chronischen Schmerzerkrankung wie Depressionen und soziale Vereinsamung zu verhindern.
Schmerzen sind kein Schicksal
Leiden Sie seit längerem unter Schmerzen, sollten Sie sich zuerst Ihrem Hausarzt anvertrauen. Dieser kann Sie auch zu einem Facharzt für Schmerztherapie oder in ein Schmerzkrankenhaus überweisen. Finden Sie sich auf keinen Fall einfach damit ab, dass Sie unter Schmerzen leiden. Schmerzen sind kein Schicksal – sie sind eine Krankheit, die geheilt werden kann. Hilfreich ist es, wenn Sie bereits ein Schmerztagebuch anlegen und dieses zur ersten Beratung mitbringen. Zeichnen Sie darin Art und Häufigkeit des Schmerzes exakt nach Tageszeit und Aktivität auf (Ist es morgens oder abends schlimmer? Besserung oder Verschlechterung durch Bewegung? Etc.) Wichtig ist, dass im Arzt-Patienten-Gespräch auf die Ursachen des Schmerzes eingegangen wird. Denn oft ist bereits ein Teufelskreis zwischen Ursache und Wirkung entstanden: zum Beispiel Schmerzen durch Muskelverspannung und wiederum Muskelverspannung durch Schmerz. Hier einzugreifen und mit Ihnen zusammen diesen Kreis zu durchbrechen, ist Aufgabe des Schmerztherapeuten.
Je nach Ursache eine andere Therapie
Chronische Schmerzen sind ein komplexes Krankheitsbild mit verschiedenen Auslösern, das in der Regel eine individuell angepasste und mehrgleisige Therapie erfordert. So geht es nicht nur darum, den Schmerz zu bekämpfen, sondern auch, die Lebensqualität positiv zu beeinflussen und weiteren Schmerzattacken vorzubeugen. Migränepatienten beispielsweise brauchen eine eingehende Beratung, um die Risikofaktoren, die einen Anfall auslösen, zu vermindern. Hierzu gehören auch eine bewusste Ernährung, das Aufgeben von Rauchen und Alkoholgenuss und ein geregelter Schlafrhythmus. Eine medikamentöse Therapie (oft als Kombination mehrerer Substanzen) ist in den meisten Fällen hilfreich. Sie dient nicht nur dazu, die Schmerzen zu verringern, sondern hilft vor allem dem von chronischen Schmerzen Betroffenen dabei, wieder aktiv zu werden und so auch fit genug für weitere Maßnahmen zu sein. Zum Einsatz kommen Schmerzmittel und entzündungshemmende Mittel für leichte bis mittelstarke und Opiate für starke Schmerzen, daneben auch pflanzliche Arzneimittel (Weidenrinde, Teufelskralle, Brennnesselblätter), Antidepressiva sowie krampflösende Medikamente (Antikonvulsiva) bei Nervenschmerzen. Neben wirkungsvollen Medikamenten stehen auch andere Therapiearten zur Verfügung, um Schmerzen zu lindern oder zu beseitigen. Physiotherapie, Massagen, medizinische Bäder oder Reizstrom (v. a. TENS = transkutane elektrische Nervenstimulation) sind einige davon. Auch die Akupunktur hat sich als wirksam erwiesen. Sie wird in vielen Fällen ganz oder teilweise von den Krankenkassen übernommen; für Kniegelenkarthrosen und Rückenschmerzen ist sie in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen. An anderen alternativen Heilmethoden stehen dem Schmerztherapeuten zur Ergänzung des Therapiekonzepts unter anderem auch die Chiropraxis, die Osteopathie und die Dorn-Therapie zur Verfügung. Diese Methoden befassen sich mit der Mechanik des Körpers und können durch bestimmte Einflüsse auf Muskeln, Gelenke und Nervenknoten zur Linderung von Verspannungen und Schmerzen beitragen. Eine Methode, die in vielen Fällen bei chronischen Schmerzen hilft, ist das Bio-Feedback-Verfahren. Hier lernen die Betroffenen, sich der Vorgänge in ihrem Körper bewusst zu werden und sie so zu steuern, dass die Schmerzen weniger werden. Danben gibt es noch einige sog. invasive Verfahren, bei denen entweder Medikamente zur örtlichen Betäubung gespritzt, Schmerzmittelpumpen eingesetzt oder „Nervenschrittmacher“ (Rückenmarkstimulation = engl. spinal cord stimulation, SCS) eingepflanzt werden.
Die Psyche nicht vergessen
Chronischen Schmerzen betreffen nicht nur den Körper, sondern sie schränken die Lebensqualität ein, können den Geist zermürben und zu Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken führen. Die psychologische Komponente der Schmerztherapie darf darum in keinem Fall außer Acht gelassen werden. Oft gelingt es über die Auseinandersetzung mit der Schmerz-Erkrankung, den Alltag mit Schmerzen besser zu bewältigen und den Teufelskreis der Schmerzentstehung zu durchbrechen. In vielen Praxen werden spezielle Programme für die psychologische Betreuung von Schmerzpatienten angeboten. In Selbsthilfegruppen und Internet-Foren können sich Betroffene untereinander austauschen, Rat und Hilfe weitergeben und das Gefühl erleben, mit ihrer Krankheit nicht alleine dazustehen. Ein wichtiger Baustein sind auch Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder die progressive Muskelrelaxation, die sich gleichzeitig auf Psyche und Körper positiv auswirken.
Strenge Standards für Schmerzzentren
Schmerztherapeutische Einrichtungen in Deutschland gibt es erst seit wenigen Jahren. Sie befassen sich mit der Vorbeugung, Diagnostik und Therapie chronischer Schmerzkrankheiten und müssen bestimmte Anforderungen und Standards erfüllen. Nur dann wird die Erlaubnis erteilt, sich als „Facheinrichtung für Schmerzpatienten“ zu bezeichnen. In Schmerzkrankenhäusern, Schmerzambulanzen oder Schmerzpraxen arbeiten Therapeuten aus mindestens drei medizinischen Fachgebieten sowie für Schmerztherapie qualifizierte Psychologen und Physiotherapeuten interdisziplinär zusammen. Wo Schmerzzentren und Spezialisten in Ihrer Nähe sind, finden Sie beim Hausarzt, bei der Ärztekammer oder im Internet. Warten Sie nicht – niemand muss mit Schmerzen leben!

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